Tag 1 – Jutta
Die Boeing 767 war im Landeanflug auf den Frankfurter Flughafen und musste, wegen des verspäteten Abflugs, auf einen tieferen Flugkorridor ausweichen. Jutta Dietz überprüfte die Instrumente, spürte das leichte Vibrieren des Steuers und war in Gedanken ein paar Stunden weiter, denn dies war ihr letzter Flug vor ihrem eigenen Urlaub.
Sie hatte sich für die nächsten Wochen vorgenommen, den Garten neu anzulegen. Ihrem Vermieter war der zu groß geworden.
Unter ihnen zogen die Mittelgebirge vorbei und wenn sie mit einem Fallschirm hätte abspringen können, würde sie vor der eigenen Haustür landen. Zumindest fast.
Ihr Blick glitt wieder über die Instrumente, Geschwindigkeit und Sinkrate waren exakt wie erwartet, als plötzlich die Anzeigen ausfielen.
»Was ist das?«, fragte Steffen, ihr Co-Pilot, während er sich vorbeugte und nacheinander mit dem Zeigefinger auf verschiedene Anzeigen tippte.
Er lehnte sich nach hinten, durchsuchte eine der Seitentaschen, holte einen kleinen Hefter zu sich und durchblätterte ihn.
»Non Normal Checklist«, kündigte er die Liste an, »dann lass uns die mal abarbeiten.«
Punkt für Punkt diktierte Steffen, Jutta wiederholte sie und versuchte die Stromkreise und die Staudruckturbine zu überprüfen.
»Geht sie?«, fragte der Co-Pilot nach der Staudruckturbine.
Die 767 wehrte sich zwar, aber Jutta hielt die Maschine stabil. Die Turbine musste automatisch ausgeklappt sein und das Hydrauliksystem mit Druck versorgen. Jutta warf dem Co-Piloten einen schnellen Seitenblick zu. »Ich denke es hat funktioniert.«
Steffen diktierte weiter von der Checkliste, bis Jutta aufgab: »Nein, nichts. Ist das die richtige Checkliste?«
»Plan to land at the nearest suitable Airport«, beendete der Copilot die Liste. »Welcher ist denn der naheliegendste passende Flughafen?«
Panisch ging Jutta im Kopf die erreichbaren Landeplätze durch, gab sich aber Mühe Ruhe auszustrahlen: »Lützellinden!«
»Lützewas?«, fragte Steffen.
»Lützellinden«, sie warf einen Blick auf den Standby-Kompass, »ein kleiner Flugplatz. Die Landebahn ist kurz, aber es liegt direkt auf unserem Weg.«
»Ein Flugplatz?« Steffens Stimme überschlug sich. »Ist die Bahn lang genug und hält die uns überhaupt aus?«
»Ganz bestimmt.« Dabei versuchte Jutta optimistisch zu klingen.
Hastig blätterte Steffen durch die Notfallchecklisten: »Wir müssen improvisieren.«
»Total loss of power«, stellte Jutta fest, »und somit keine Chance die Flugverkehrskontrolle zu erreichen.«
Ohne Kontakt waren sie fast blind und auf sich allein gestellt. Steffen beschäftigte sich weiter mit dem Überfliegen der Listen und schüttelte regelmäßig den Kopf. Die Schwerkraft drückte das Kerosin in die Turbinen und da sie sich ohnehin im Sinkflug befanden, liefen diese im Leerlauf.
Ein Klopfen an der Cockpittür ließ Steffen merklich zusammenzucken. Jutta schaffte es, sich ihren Schrecken nicht anmerken zu lassen.
»Ja?«, rief Jutta und warf einen Blick auf einen kleinen Monitor, der normalerweise die andere Seite der Tür zeigte. Ohne Strom blieb diese Mattscheibe schwarz.
Sabine, die Chefflugbegleiterin dieses Fluges, fragte: »Was ist los?«
»Stromausfall, aber die Hydraulik funktioniert, wir haben keinen Kontakt zur Flugverkehrskontrolle«, berichtete Steffen. »Bereite die Passagiere auf eine Notlandung vor!«
»Ohne Strom?«, hörte sie die durch die Tür gedämpfte Stimme.
»Lauter reden«, entgegnete er leicht gereizt.
»Wie schlimm ist es?«, brüllte Sabine.
Jutta antwortete: »Wir werden es nicht bis zu einem großen Flughafen schaffen und müssen einen geeigneten Platz zum Landen finden. Da alle Instrumente ausgefallen sind, fliegen wir blind. Die Steuerung ist schwerfällig und wenn wir einen Strömungsabriss haben … nein, darüber mag ich nicht nachdenken. Selbst wenn wir nicht abstürzen, haben wir das Problem, dass wir den Vogel bei der Landung kaum steuern können. Wenn du gläubig bist … jetzt wäre die Zeit für ein Gebet!«
»So schlimm? Okay, wir werden die Passagiere einweisen.«
Hoffentlich würden Sabine und ihre Kolleginnen es schaffen, die Insassen zu beruhigen.
Die Minuten verstrichen und die beiden hielten das Flugzeug zumindest stabil. Wie schnell sie waren und wie viel Höhe sie verloren hatten, konnten sie nur schätzen.
»Was ist das?« Sie entdeckte einzelne Punkte vor sich.
»Vögel!«, stellte Steffen überrascht fest.
»Du hast recht«, ihre Stimme klang entgeistert und sie sah keine Möglichkeit, dem auszuweichen, ohne die ohnehin schon fragile Stabilität ihres Landeanfluges zu gefährden.
Schnell näherten sie sich dem Vogelschwarm und unvermeidlich registrierte sie die dumpfen Aufschläge, die die Steuerung erzittern ließen, und das bis eben beruhigende Summen der Turbinen erstarb. Vogelschlag mit Triebwerksausfall. Dazu gab es auch eine Checkliste, erinnerte sich Jutta.
»Welche Ironie«, flüsterte Jutta, »Kraniche gegen den Condor. Das wäre eine Titelzeile im Boulevardmagazin wert!«
»Das kann man sich nicht ausdenken.« Steffen versuchte hektisch aus dem Fenster nach den Triebwerken zu schauen, obwohl er doch wissen musste, dass die aus dem Cockpit nicht zu sehen waren.
»Es ist gar nicht die Jahreszeit für Zugvögel. Warum fliegen die so hoch?«, versuchte Jutta ihn abzulenken. Woher auch immer sie das hatte: Wenn jemand in ihrer Nähe in Hektik oder Panik geriet, schaffte sie es meist, dies auszugleichen.
»Das ist nicht wichtig.« Steffen hatte die Panik in der Stimme, die sie selbst fühlte. »Wie bekommen wir das Flugzeug ohne Strom auf den Boden?«
Jutta versuchte ihn abzulenken: »Na der ›Gimli Glider‹ hat es geschafft und der war in fast 11.000 Meter Höhe, als denen der Sprit ausging!«
»Den Namen habe ich schon gehört«, grübelte der Co-Pilot, »an Details erinnere ich mich nicht.«
»Das war ebenfalls eine Boeing 767. Die Piloten hatten eine spektakuläre Notlandung hinlegt«, erklärte Jutta weiter, »wegen eines Umrechnungsfehlers war die Maschine nur zur Hälfte betankt. Der Pilot war auch Segelflieger, sein erster Offizier ehemaliger Kampfflieger. Und die waren wesentlich höher als wir.«
Steffen schien zumindest etwas beruhigt zu sein: »Zumindest kennst du die Piste!«
Sie überlegte verzweifelt, wie sie vor dem Flugplatz die Geschwindigkeit reduzieren konnte und ob das Feld hinter der Landebahn und die Landebahn selbst die 767 aushalten würden.
»Wir können uns an der A 45 orientieren, die führt direkt am Flugplatz vorbei. Kurz hinter Wetzlar, das müssten wir gut erkennen«, erläuterte Jutta.
Es erforderte erhebliche Kraft, das Flugzeug nur mit den Seilzügen und der Hydraulik zu steuern. Wenn sie einen Fehler machen würde und die Strömung abriss, würden sie abstürzen.
»Herborn«, meldete Jutta, »noch knappe drei Minuten, wenn wir nicht zu schnell an Höhe verloren haben.«
Die fehlenden Turbinengeräusche und das schweigende Funkgerät machten die Szene fast surreal. Fallwinde ließen das Flugzeug erzittern und leicht absacken, aus der Kabine waren Schreie zu hören, die kurz darauf wieder verstummten.
»Ohne Strom haben wir keine Landeklappen, wir werden viel zu schnell sein.« Steffen sah blass aus.
Er schaute aus dem Fenster und beobachtete den fast wolkenlosen Himmel.
»Siehst du, dort im Westen? Ich glaube, die haben die Maschine nicht mehr unter Kontrolle!«
Jutta warf einen Blick nach rechts aus der Scheibe und erkannte ein Flugzeug, das dem Boden entgegen trudelte.
»Was ist bei denen los?«, fragte sie, »haben sie die gleichen Probleme wie wir?«
»Es sieht so aus«, vermutete Steffen.
Sie spürte einen Kloß im Hals, denn ihr war klar, was mit dem anderen Flugzeug passieren würde. Beide wandten den Blick ab und fokussierten sich wieder auf die eigene Maschine, die sich widerstrebend kontrollieren ließ.
Das Flugzeug verlor weiter an Höhe und sie erkannte Wetzlar mit dem nie vollendeten Dom: »Über den Hügel, dann sehen wir den Flugplatz.«
»Auf der Autobahn bewegt sich nicht ein einziges Fahrzeug«, kommentierte Steffen.
Mittlerweile erkannte sie, dass sich die Autos nicht nur nicht mehr bewegten, sondern dass sich zahlreiche Unfälle auf der Autobahn ereignet hatten. Einige kleinere Auffahrunfälle, Fahrzeuge, die wohl in die Böschung gefahren waren und teilweise auf dem Dach lagen. Auf einer Autobahnabfahrt hatte es eine Massenkarambolage gegeben.
Konnten sie bisher das Flugzeug im Anflug auf gerader Linie halten, leiteten sie nun eine leichte Linkskurve ein. Insgesamt hatten sie Glück im Unglück: Die Landebahn war frei, die Maschine war mit ihr auf einer Linie und der Sinkflug passte.
Konzentriert arbeiteten sie die Checkliste für eine Landung ab und improvisierten wieder, da viele Punkte nicht abzuarbeiten waren.
»Wollen wir hoffen, dass das Fahrwerk ordentlich ausfährt und einrastet«, sagte Jutta. »Gravity Drop!«
Sie betätigte den entsprechenden Hebel.
… das Kapitel ist hier noch nicht fertig, in dieser Leseprobe schon.