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Thomas Müller und das Ende der Welt, wie wir sie kennen – Vulkanausbruch I

Thomas Müller und das Ende der Welt, wie wir sie kennen – Vulkanausbruch I

Gestatten: Thomas Müller

Thomas Müller stand in der kleinen Teeküche vor der edelstahlfarbenen Espressomaschine und wunderte sich abermals, dass sie nicht Kaffeeküche genannt wurde. Neben der Siebträgermaschine versteckte sich eine klassische, aber ebenfalls hochwertige Filterkaffeemaschine, und ein schlichter Wasserkocher, dessen Kunststoffoptik nicht mit den beiden Maschinen mithielt. Eine Box aus hellem Holz bot durch das Glas im Deckel den Blick auf eine Auswahl an einzeln verpackten Teebeuteln, die in verschiedenen Farben die Fächer ausfüllten. Seit sie vor ein paar Jahren in der Teeküche aufgetaucht war, vermutlich durch die beiden Engel aus dem Office-Management, musste sie nicht wieder aufgefüllt werden. Thomas schätzte, dass bisher nicht einmal ein Viertel der Beutel verbraucht worden waren.

»Na, Herr Mustermann«, begrüßte ihn eine tiefe Stimme, »kümmerst du dich wieder mal um deinen Koffeinpegel?«

Dennis Neunig lachte über seinen eigenen Witz, den er wohl selbst als Running-Gag betrachtete und den Thomas sich jeden Tag mindestens einmal von ihm anhören durfte. Zumindest jeden Tag, an dem sie beide im Gießener Büro der Hessischen Versicherung arbeiteten. Da er im Innendienst und Dennis in der IT-Administration tätig war, waren das fast alle Arbeitstage, außer denen einer von beiden im Urlaub oder krank war. Kurz nachdem Neunig vor acht Jahren am Standort angefangen hatte, hatte er herausgefunden, dass ‘Thomas’ der häufigste Vorname und ‘Müller’ der häufigste Nachname in Deutschland war. Er brauchte dann auch nicht lange dahinter zu kommen, dass Thomas mit einem Meter und achtundsiebzig und einem Körpergewicht von etwa 82 Kilo der personifizierte Durchschnittstyp war.

»Hallo Dennis.« Er ertrug den ausgelutschten Witz tapfer. »Da geht es den Menschen wie den Leuten!«

»Und du magst wirklich lieber dieses hippe Zeug anstatt eines klassischen Filterkaffees?« Dennis deutete auf die Espressomaschine. »Da kannst du doch machen, was du willst, entweder musst du Kaffeebohnen oder Wasser nachfüllen, die Tropfschale ausleeren oder sie bettelt dich an, gereinigt zu werden!«

Er stellte seine Star-Trek-Motivkaffeetasse auf die Anrichte, griff nach der Thermoskanne in der Filtermaschine und kniff die Lippen zusammen: »Mist!«

»Der Nachteil bei der anderen Maschine« Thomas verkniff sich ein Lachen. »ist der, dass sich nicht jeder an die Regel hält eine neue Kanne anzustellen, wenn er die letzte Tasse genommen hat.«

Dennis leerte einen verlorenen Schluck aus der Kanne in seine Tasse und tauchte seinen Finger hinein: »Lauwarm. Geschieht mir wohl recht.«

Thomas hatte mittlerweile den Siebträger unter dem Brühkopf befestigt, seine Star-Wars-Tasse daruntergestellt und beobachte, wie die schwarzbraune Flüssigkeit hineinfloss: »Egal wie gut du ein System planst, es hat immer Schwäch…«

Die Gläser im Küchenregal klirrten im Regal, eines bewegte sich nach vorne, fiel herunter und zersplitterte auf dem gefliesten Boden. Auch Thomas Tasse war einige Millimeter gewandert und mit einem lauten Knall schloss sich die Tür der Teeküche. Das Licht flackerte und die Bilder an der Wand pendelten.

»Schon wieder!«, stöhnte Dennis. »Da werden die Kollegen in der Hausrat- und der Gebäudeversicherung wieder viel zu tun haben.«

Thomas nickte: »Die kommen jetzt schon nicht mit den Schadensmeldungen der letzten Tage hinterher.«

Er hatte selbst fünf Erdbeben in den vier zurückliegenden Wochen bemerkt, die Nachrichten hatten von über vierzig berichtet, wobei die meisten so schwach waren, dass sie von Menschen nicht zu bemerken waren.

Das Beben war, wie die meisten davor, nur kurz und ohne darüber nachzudenken richtete Thomas die Bilderrahmen wieder aus.

»Und die Geologen glauben«, erzählte Dennis, »dass die Beben irgendwie mit Vulkanismus zusammenhängen. Sind unsere Kunden denn gegen Vulkanausbrüche versichert?«

Thomas hatte keine Ahnung, in welche Richtung das Gespräch ging: »Über Elementarschäden, wenn ich mich recht erinnere.«

»Gestern Abend waren in einer Talkshow auf dem Ersten wieder einige selbst ernannte Spezialisten«, berichtete der ITler, »Ein Geologe, von der Uni hier in Gießen war auch dabei.«

Thomas hatte die Sendung auch gesehen, besonders war ihm ein Freizeitwissenschaftler in Erinnerung geblieben, der, so hatte er später gegoogelt, schon seit über dreißig Jahren davor gewarnt hat, den Vogelsberg als inaktiven Vulkan zu bezeichnen. Bis vor wenigen Wochen war er dafür belächelt worden und in die Ecke der Verschwörungstheoretiker gestellt, zumal er behauptete, dass man das vor den Anwohnern verheimlichen wollte. Seit nach den Erdbeben die ersten Wissenschaftler von magmatischen Erdbeben gesprochen haben, erhielt der Mann Zulauf und war jeden Abend auf einem anderen Sender zu sehen. Thomas fragte sich, ob Dennis vielleicht sogar Kontakt mit dem Mann hatte, denn er sprang auf so ziemlich jeden Verschwörungsmythos an, der ihn erreichte.

»Hatten die nicht erklärt, dass das mit diesen Niederfrequenzerdbeben fehlen würde?«, erinnerte sich Thomas, aber er hatte sich das nicht bis ins letzte Detail gemerkt.

Dennis hatte Wasser in die Kaffeemaschine geschüttet und befüllte den Filter: »Die ‚Deep-Low-Frequency’-Erdbeben geschehen in großer Tiefe und können wohl ein Hinweis sein, dass Magma aus dem Erdmantel in die Erdkruste eindringt.«

»‚Deepless-Frequency’?«, fragte Thomas nach.

»Nein.« Dennis schüttelte den Kopf. »‚Deep-Low-Frequency’, DLF. Erdbeben mit sehr Niedriger Frequenz, zwischen 1 und 10 Hertz.«

»Und was glaubst du?«, wagte Thomas sich vor, auch wenn er damit bei Dennis offene Türen einrannte.
Der war erfreut über das Interesse: »Ich sag es dir, der Vogelsberg wird ausbrechen. Nix da ‚inaktiver Vulkan’, bald haben wir am Horizont eine Rauchsäule stehen und der Flugverkehr wird am Boden bleiben, wie beim Ausbruch des Eyjafjallajökulls 2010.«

Genau das hatte der Typ in der Talkshow auch erzählt, dachte Thomas: »Na, deine Begeisterung kann ich nicht so ganz teilen. Respekt, dass du dir den Namen des Vulkans merken und ihn sogar aussprechen kannst!«

Dennis zuckte mit den Schultern: »Wenn ich dich erwische, wie du die Rauchsäule fotografierst, kostet dich das eine Flasche Bier!«

»Müssten wir nicht zusehen, dass wir Abstand gewinnen? Immerhin leben wir hier auf den Ausläufern! Und das mit dem Bier überlege ich mir.«

»Ich muss mal wieder runter«, sagte Dennis, »vielleicht sehen wir uns ja, wenn ich meinen Kaffee hole.«
Geräuschvoll meldete die Filtermaschine ihren Betrieb, die Star-Trek-Tasse hatte der ITler daneben stehen lassen und eilte aus der Küche.

Thomas verlängerte seinen Espresso, füllte noch etwas Milch nach und ging zu seinem Schreibtisch. Sein Rechner war gesperrt und er brauchte mehrere Versuche, bis er sich daran erinnerte an diesem Morgen das Passwort gewechselt zu haben. Firmenvorschrift. Alle sechs Monate musste man ich ein neues Passwort ausdenken und es durfte keines der letzten zwanzig sein. Die Absicht war gut, führte jedoch dazu, dass die meisten ihr Passwort einfach nur um eine fortlaufende Nummer erweitert hatten.

Passwort06.

Passwort07.

Passwort08.

Thomas war mittlerweile bei Passwort23 angelangt.

Der Posteingang hatte sich wieder gefüllt, dabei war er nur in der Teeküche gewesen. Er öffnete einen weiteren Tab in seinem Browser und darin eine Nachrichtenseite. Auch wenn die Erdbebenserie die Talkshows füllten, das eben Erlebte war dort noch nicht zu finden, also wechselte zu Facebook und dort überschlugen sich die Beiträge seiner Facebookfreunde. Er überflog die Meldungen, platzierte seine Bekannten im Kopf auf eine Karte und, auch wenn die Freunde keine repräsentative Stichprobe ergaben, schien es mehr Meldungen im Osten des Vogelsberg zu geben. Einer berichtete sogar von einem Riss in seinem Haus und hatte das mit entsprechenden Bildern unterlegt.

In den Feeds von Nachrichtenseiten tauchten dann die ersten Berichte auf und in den Kommentaren darunter ging es direkt hoch her. Während die einen sofortige Evakuierung forderten, konterten andere, dass man doch gar nicht wüsste wohin. Es dauerte nicht lange, bis jemand darauf hinwies, dass der Vogelsberg schon seit Millionen Jahren erloschen war, während die Eifel noch zu Menschenzeiten vulkanische Aktivität hatte. Dem wurde schnell entgegengesetzt, dass Wissenschaftler einen Ausbruch aber auch nicht ausschließen konnten.

Thomas lehnte sich in seinen Schreibtischstuhl zurück und warf einen Blick aus dem Fenster. Er trank einen Schluck aus seiner Tasse und versuchte sich wieder auf die Arbeit zu konzentrieren. Ein Blick in seinen Kalender offenbarte ihm, dass er zumindest für den Rest des Tages kein Meeting mehr hatte. Thomas begutachtete den Papierstapel in seiner Eingangsbox, entschied sich dann aber für das Abarbeiten des Posteingangs seines E-Mailpostfachs. Nacheinander öffnete er die knapp zwanzig neuen Nachrichten, verschob Unwichtiges und die, die ihn nur auf den aktuellen Stand eines Themas brachten direkt in den virtuellen Papierkorb. Mails, die aufgehoben aber nicht beantwortet werden mussten, sortierte er in entsprechende Ordner, eine E-Mail beantwortete er sofort, die verbleibenden drei in den Ordner mit den ‘bald zu beantworteten’-Nachrichten.

Er nahm das erste Schreiben von seinem Papierstapel in die Hand, als die Erde erneut bebte. Seine Tasse wanderte an den Rand des Schreibtisches, reaktionsschnell hielt er sie auf, bevor sie über den Rand kippen konnte. Die Tür der Teeküche fiel wieder mit einem lauten Knall zu und genauso schnell, wie es begonnen hatte, war es wieder ruhig.

»Das war jetzt sehr schnell hintereinander«, kommentierte Maja Hubecker, seine Schreibtischnachbarin, »so langsam macht mir das Angst.«

»Sie scheinen aber zumindest nicht stärker zu werden«, befand Thomas, »Wobei ich mich nur an ein spürbares Erdbeben vor dieser Serie erinnere. Irgendwann in den neunzigern.«

»Echt? Ich habe da nichts mitbekommen«, reagierte Maja, die Ende dreißig war.

»Die Gnade der späten Geburt«, lächelte er sie an, »Da warst du vermutlich 10 Jahre alt und da es in der Nacht war, wirst du wohl geschlafen haben.«

Sie zuckte mit den Schultern: »Da werde ich mal meine Mu…«

In diesem Moment erzitterten alle Fensterscheiben, auf dem Parkplatz gingen die Alarmanlagen mehrerer Autos los und Thomas spürte die plötzliche Veränderung des Luftdrucks auf dem Trommelfell. Instinktiv versuchte er, den Druck auszugleichen, und wurde kurz darauf von einem ohrenbetäubenden Knall überrascht.

Es pfiff auf seinen Ohren und alles um ihn herum war nur dumpf zu hören. Die um Aufmerksamkeit streitenden Alarmanlagen waren wie aus weiter Ferne wahrzunehmen.

»Was war das?«, fragte Maja. Zumindest glaubte Thomas, das gehört zu haben.

»Ich kann dich kaum hören«, reagierte er, das Rauschen in seinen Ohren schien lauter zu werden, alles andere zu übertönen.

Die nächste Schockwelle traf das Bürogebäude, einige der Fensterscheiben zeigten Risse, zersprangen jedoch nicht. Eine noch lautere Explosion ließ ihn kurz komplett taub werden und Thomas war froh zu sitzen, denn ihm war schwindelig. Majas Gesicht war weiß wie ein Blatt Papier und sie hielt sich die Hände an die Ohren.

Zumindest nerven mich die Alarmanlagen nicht, dachte sich Thomas, bevor die Angst ihn überkam. War er taub geworden? Würde er keine Musik mehr hören können?

Nur am Rande registrierter er, dass sich beide seine Monitore abgeschaltet hatten. Auch das Display des Telefons zeigte nichts mehr an.

Eine dritte Schockwelle erschütterte das ganze Gebäude, die Fensterscheiben zersplitterten und die Scherben fielen zu Boden. Thomas warf sich auf den Teppich, kletterte unter seinen Schreibtisch, um dort Maja zu sehen, die unter ihrem Tisch Schutz suchte.

Auch wenn Thomas die Ohren schmerzten, er hatte das Gefühl, ihm wären die Trommelfelle geplatzt, er wusste nicht, dass dies die lauteste Explosion war, die Menschen jemals gehört hatten.

»WAS IST DAS?«, rief Maja.

Thomas hörte sie nur sehr leise: »ICH WEISS ES NICHT! VIELLEICHT HATTEN DIE MIT DEM VULKANAUSBRUCH RECHT?«

Die Mittelohrentzündung, die er als Jugendlicher hatte, war ähnlich schmerzhaft. Er vergrub den Kopf zwischen den Knien und erwartete weitere Explosionen, doch die blieben aus. Stattdessen hörte man ein Rumpeln, ein tiefes Rauschen.

Langsam kehrte sein Gehör zurück und er vernahm Sirenen. Thomas schaute auf seine Uhr, er hatte bereits zehn Minuten unter dem Tisch verbracht. Vorsichtig wagte er sich aus seiner Deckung hervor und auch die Kolleginnen und Kollegen im Großraumbüro tauchten nacheinander wieder Schreibtischen auf.

»Und was jetzt?«, fragte Thomas, etwas erschrocken, dass er seine Stimme wieder besser hören konnte.

»Erst mal raus auf den Sammelpunkt?«, schlug Maja vor und wie, als ob dies das Signal gewesen war, bewegten sich alle auf den Ausgang zu.

Trotz der vielen Notfallübungen teilte sich am Ende der Treppe die Menge. Die einen eilten in Richtung des Haupteingangs, die anderen liefen zur schmucklosen Notausgangstür, die direkt auf den Parkplatz führte, an dessen Ende sich der Sammelpunkt befand.

Es hat begonnen

»Hallo Mustermann!«, Dennis stand bereits dort, zück schon mal deine Kamera!«

Er zeigte Richtung Osten, wo eine gigantische Rauchsäule in die Höhe stieg.

»Mein Gott«, flüsterte Thomas, »wie hoch ist das?«

Beim ITLer überwog die Faszination: »Schwer zu sagen, das kommt wohl auch darauf an, wo der Vogelsberg ausgebrochen ist?«

»Dir ist schon bewusst«, maßregelte ihn Maja, »dass es da auch um Menschenleben geht?«

Dennis Gesicht zeigte erst Überraschung, dann Erkenntnis an, gefolgt von Scham: »Wie … nein, da habe ich nicht drüber nachgedacht.«

Von allen Seiten konnte Thomas Sirenen hören, auf der Hauptstraße sah er einen Polizeiwagen stadtauswärts rasen. Thomas dachte an seine Frau Sabine, holte sein Handy aus der Tasche, nur um zu bemerken, dass er kein Netz hatte.

»Mit dem Stromausfall sind vermutlich auch die ganzen Sendemasten ausgefallen«, kommentierte Dennis den fragenden Blick von Thomas, »die Eruption wird bestimmt eine der Überlandleitungen beschädigt haben.«

»Haben die Handynetze keine Notstromversorgung?«, fragte Thomas.

»Da habe ich noch nie darüber nachgedacht«, antwortete Dennis, »Wäre aber wohl auch ziemlich aufwendig? Die brauchen erst mal eine Weile, bis die das Verbundnetz wieder eingepegelt haben, dann wird das auch wieder gehen.«

»Verbundnetz?«, Thomas war froh, das Maja ebenfalls nicht wusste, wovon Dennis sprach.
Dennis schien sichtlich erfreut erklären zu dürfen: »Strom muss dann produziert werden, wenn er verbraucht wird. Die Schwankungen dürfen nur ganz gering sein, sonst ist zu viel oder zu wenig Strom vorhanden. Das würde sich hochschaukeln und das Netz würde Stück für Stück zusammenbrechen. Die letzten Jahre war es mehrmals kurz davor, oft lag es daran, dass auf den Strommärkten spekuliert wurde und man gerade so im letzten Moment noch die Kurve bekommen hatte.«

»Und wenn so eine Überlandleitung wegfällt«, vermutete Maja, »lässt sich das auch nicht mehr Regeln?«

»So genau weiß ich es nicht«, gestand Dennis. »Aber es würde Sinn machen. Denke ich.«

»Dann frage ich mich wohin die ganzen Sirenen fahren«, bemerkte Thomas, »Ohne Telefone kann doch niemand mehr einen Notfall melden.«

»Festnetzgeräte hatten früher eine eigene Versorgung«, wusste Dennis, »aber das hat heute kaum noch jemand.«

»Autoradio!«, rief Thomas. »Da können wir bestimmt Nachrichten hören!«

Sie warteten noch, bis alle Kollegen durchgezählt waren, und gingen dann zu Thomas Auto. Er wunderte sich, dass seine Scheiben komplett intakt waren, bei anderen Fahrzeugen war das Verbund- und Sicherheitsglas teilweise zersprungen, bei wenigen sogar komplett zerbrochen. Im Hintergrund war beständig das Donnern der Eruption zu hören, weitere Explosionen oder Erdbeben registrierte Thomas nicht.

Er setzte sich auf den Fahrersitz, die anderen stellten sich um die Fahrertür, Dennis stieg auf der Beifahrerseite an. Die Frequenz, auf der normalerweise sein Lieblingssender zu hören war, rauschte ihn nur an und nachdem er alle anderen gespeicherten Senderplätze durchprobiert hatte, versuchte er es mit dem Sendersuchlauf.

»Die werden auch keinen Strom haben«, kommentierte ein Kollege aus Thomas Großraumbüro, »und die Sendeanlagen auch nicht.«

»Nichts«, befand Thomas, »kein Sender hereinzubekommen. Das sollten wir später noch mal probieren.«

Er stieg aus dem Auto aus und spähte zur riesigen, senkrecht stehenden Wolke. Die am Himmel erkennbaren Flugzeuge drehten alle weg von ihr und aus einem Hollywoodfilm wusste Thomas, dass Vulkanasche so fein war, dass sie die Turbinen zerstörte. Er hatte auch ein Bild eines Passagierjets gesehen, dass durch eine Aschewolke geflogen war: Es sah aus, wie abgeschmirgelt.

»Auch an den Flugzeugen ist nicht zu erkennen, wie weit das ist«, sagte Dennis.

»Es ist auf alle Fälle zu nah!«, reagierte Maja, »die armen Menschen!«

»Ob wir hier in direkter Gefahr sind?«, sorgte sich Thomas, »wird die Vulkanasche bis zu uns getragen? Könnte uns ein pyroklastischer Strom treffen?«

»Wie gehst du denn ab!«, Thomas grinste innerlich, meistens war es Dennis, der mit Wissen glänzte, schön, dass er ihn auch mal überraschen konnte, »pryokastischer Sturm?«

»Pyroklastischer Strom«, korrigierte Thomas, »eine sich schnell, extrem schnell bewegende Wolke aus vulkanischen Gasen, vulkanischer Asche, vielleicht auch noch mehr. Bis zu 700 km/h schnell und fast 1000°C heiß.«

»Na du machst ja Mut.« Dennis schien die Lage immer noch nicht ernst genug zu nehmen. »Und wie weit kann so eine Wolke reichen?«

»Unter normalen Umständen würde ich das googlen«, konterte Thomas, »aber ich habe keinen Empfang.«

»Hätte ja sein können, dass du das weißt«, reagierte Dennis leicht gereizt, beruhigte sich dann aber.

»Ich habe nur so Bilder von Lavaflüssen im Kopf, die sich aber eher langsam bewegen.«

Nach kurzer Zeit schob er hinterher: »Langsam, aber unaufhaltsam!«

Eine weitere Schockwelle rollte über sie und instinktiv hielten alle ihre Ohren zu, waren diesmal auf den Explosionsknall vorbereitet, der kurz darauf folgte.

Thomas hörte trotzdem wieder ein Rauschen auf seinen Ohren, diesmal aber nicht so extrem wie bei der dritten Explosion. »Warum kommt da erst die Schockwelle und dann der Knall?«

»Ist wohl ähnlich wie bei Blitz«, vermutete Dennis, »die Schockwelle ist schneller als der Schall?«

»Das ist nicht gut«, Thomas deutete nach Osten, wo links von der großen Eruptionssäule eine weitere, kleinere, langsam in den Himmel wuchs, »die ist näher an uns dran.«

Die ersten Autos mit Vogelsberger Kennzeichen verließen den Parkplatz, Thomas erkannte an zwei Steuern Kollegen, die irgendwo bei Alfeld lebten.

»Sollten wir auch zu unseren Familien fahren?«, schlug Dennis vor, der, wie Thomas, in einem Ort zwischen Gießen und Wetzlar wohnte, »bevor die Straßen alle dicht sind.«

»Vermutlich«, reagierte Thomas, »aber viele werden mit den gesprungenen oder kaputten Scherben nicht fahren können. Vielleicht können wir ja Fahrgemeinschaften anbieten?«

Am Standort der Hessischen Versicherung in Gießen arbeiteten etwas mehr als 100 Menschen. Auf dem Parkplatz befanden sich mehr als 60 PKWs, die wenigsten fuhren mit dem Fahrrad oder dem ÖPNV ins Büro und ganz selten fanden sich Kollegen zu Fahrgemeinschaften zusammen.  

Dennis wurde direkt aktiv: »Ich kann vier Plätze Richtung Wetzlar anbieten! Bitte melden, wer mitkommen möchte.«

Schnell standen mehr vor Dennis, als er Plätze anbieten konnte, und Thomas stellte sich dazu: »Ich kann ebenfalls vier Plätze für die gleiche Richtung anbieten.«

»Wunderbar«, sagte Dennis, »du, du, du und du, ihr fahrt mit mir und die anderen drei können bei Thomas mitfahren.«

Thomas grinste, denn Dennis hatte ausnahmslos attraktive Frauen für seine Fahrgemeinschaft ausgewählt. Er gönnte es dem Single der, wie er ihm bei mehrfacher Gelegenheit mitgeteilt hatte, gerne eine Freundin hätte. Das er in einem Haus mit seiner Mutter wohnte, machte ihm das sicherlich nicht einfacher.

»Holt bitte jeder noch seine Sachen aus dem Büro«, bat Thomas, »Wir treffen uns dann beim Auto.«

Der Boden erzitterte und alle schauten entsetzt um sich, dann nach Osten, aber kurz darauf hörte es wieder auf und der Blick der meisten klebte an den beiden Eruptionssäulen.

Thomas war der Erste, der sich wieder bewegte und zurück ins Gebäude ging, die anderen folgten ihm. Schnell verstaute er seinen Laptop in seinem Rucksack, öffnete die Schubladen seines Rollcontainers, fand aber nichts, was er direkt mitnehmen wollte, und ging wieder zurück zum Auto. Die Damen aus Dennis Fahrgemeinschaft waren schneller zurück als seine Mitfahrer und Dennis konnte schon losfahren, bevor der erste Mitfahrer von Thomas da war.

»Pass auf dich auf Thomas«, Dennis war neben ihm stehen geblieben und hatte das Fahrerfenster geöffnet.

»Du auch auf dich«, reagierte Thomas, dem nicht entgangen war, dass Dennis ausnahmsweise den ‘Mustermann’ nicht ausgespielt hatte, »wir sehen uns morgen.«

»Bis morgen«, die Scheibe bewegte sich wieder nach oben und das Fahrzeug fuhr durch das große Tor, als der Boden erneut bebte.

Eine Explosion schleuderte Thomas zu Boden und ließ das Glas in seinem eigenen Auto zersplittern. Benommen von der Druckwelle schüttelte Thomas seinen Kopf, versucht aufzustehen,  fühlte sich aber schwindelig. Er setze sich, betastete seinen Kopf. Dort wo er auf den Boden gefallen war, fühlte es sich feucht an und die Finger, mit dem er den Kopf betastet hatte, war rot verschmiert. Nur langsam fand er die Orientierung wieder, das erneute Rauschen im Ohr wurde durch ein nahes Donnern übertönt. Als er nach dem Auto von Dennis schaute, sah er, dass sich aus einem nur wenige hundert Meter entfernten Hügel des Hangelsteins eine Rauchsäule langsam in die Höhe fraß.

Dennis schien die auch gesehen zu haben und beschleunigte sein Fahrzeug, hatte beim Einbiegen in die Straße fast einen Unfall mit einem vorbeifahrenden Kleintransporter, wofür er ein kleines Hupkonzert erntete. Der erste von Thomas Mitfahrern kam mit seiner Tasche aus dem Gebäude gerannt, blieb, als er den neuen Ausbruch sah, kurz stehen, um sich diesen anzuschauen.

»Auf! Auf«, feuerte Thomas ihn an, »ins Auto, schauen kannst du später immer noch!«

Der Ausbruchsort machte Thomas Sorgen, drohte zwei seiner Rückwege nach Hause zu versperren und der einzige ‘vulkanfreie’ Weg führt durch die Stadt selbst. Eine weitere Schockwelle traf ihn, wieder hielt er sich die Ohren zu und kurze Zeit später hörte er einen weiteren, lauten Knall. Er suchte den Horizont ab und fand rechts von der größeren Eruptionssäule eine weitere, die sich langsam in den Himmel fraß. Seine zweite Mitfahrerin kam aus dem Gebäude und blieb wie angewurzelt stehen, als sie die Rauchsäule über dem Hangelstein sah.

»NICHT STEHENBLEIBEN!«, schrie Thomas, der einfach nur noch wegwollte. Wo blieb der andere Kerl, was braucht der so lange!

Eine erneute Kombination aus Schockwelle und Explosion traf ihn, diesmal so schnell hintereinander, dass er nicht mal die Gelegenheit hatte, sich die Ohren zuzuhalten. Seine Mitfahrerin rannte zu seinem Auto, vom Dritten fehlte jede Spur. In einer Mischung aus Faszination und schrecken schaute Thomas nach Osten, drehte dann zur Rauchsäule, die nur wenige hundert Meter entfernt in den Himmel stieg und erschrak, als er im Westen die nächste Eruptionssäule sah. Irgendwo beim Vetzberg oder Gleiberg.
Fast wie Schnee rieselte die erste Asche auf ihn herunter. Panik stieg in ihm auf, er rannte zu seinem Auto und wurde von der nächsten Explosion überrascht. Das Pfeiffen war zurück in seinen Ohren und das Donnern der Eruptionen hörte er nur noch ganz leise, wie durch einen schlechten Ohrenschutz. Voller Sorge sah er im Norden eine zweite Rauchsäule aufsteigen, vermutlich dort, wo der Lollarer Kopf war.

Er öffnete die Fahrertür seines Autos, die beiden Mitfahrer feuerten ihn an: »LASS UNS LOSFAHREN! LASS UNS LOSFAHREN!«

Als Thomas einsteigen wollte, riss ihn ein weiterer Ausbruch erneut zu Boden, diesmal schaffte er es, schneller wieder aufzustehen. Am Hangelstein, direkt vor ihm, war ein weiterer Teil des Hangs verschwunden und eine grauschwarze Wolke raste auf ihn zu.

Pyroklastischer Strom, dachte Thomas, während er von ihm eingehüllt wurde.

Hintergründe Vogelsberg und Thomas Müller

Wie im Vorwort beschrieben, und im Gespräch mit seinem Kollegen angedeutet, symbolisiert ›Thomas Müller‹ einen Durchschnittstypen mit einem durchschnittlichen Job. Weitere Details aus seinem Leben folgen noch in den weiteren Geschichten, wobei man sich das wie in Parallelwelten vorstellen muss: Die Entwicklungen in den einzelnen Episoden beeinflussen sich nicht gegenseitig.

Bei der Recherche zum Thema ›Vulkanausbruch‹ fiel mir schnell auf, dass es von bedeutender Relevanz ist, wie weit entfernt ›Thomas Müller‹ vom ausbrechenden Vulkan lebt. Das nächste Problem war, dass es wohl keine wissenschaftliche Definition von ›Supervulkan‹ gibt, und ein solcher wäre nötig, um das ›Ende der Welt, wie wir sie kennen‹ einzuleiten.

Laut Wikipediaartikel ist ein Supervulkan ein Vulkan, der bei seinem Aubruch mindestens 1.000 km³ auswirft und einen VEI (Vulkanexplosivität-Wert) 8 oder mehr hat. Der letzte Bekannte ereignete sich vor ca. 26.500 Jahren im Gebiet des heutigen Neuseeland.

Gerade die ersten beiden Vulkanepisoden werden der Defintion (nach aktuellen Wissen) nicht gerecht, ergaben sich bei mir aus der groben Entfernung von Thomas Wohnort Umbach (der fiktive Ort liegt zwischen Wetzlar und Gießen, ca. 60 km nördlich von Frankfurt am Main) zum Vulkan.

Direkt im Osten von Gießen kann man, bei richtigen Wetter, den Vogelsberg erblicken. Es handelt sich dabei um das größte, geschlossene Basaltmassiv in Europa und kein Schildvulkan, sondern eine Überlagerung einzelner Vulkanberge, die vor etwa 7 Millionen Jahren erloschen. Nach aktuellen Stand gilt der Vogelsberg als erloschener Vulkan.

Der Ausbruch direkt vor Thomas Büro ereignet sich beim Hangelstein, ein nordöstlich von Gießen gelegener Vulkan, der zum ›Vorderen Vogelsberg‹ gehört. Der pyroklastische Strom, dem Thomas in diese Episode zum Opfer fällt, fließt über die Flanke des Hangelstein in Richtung Tal auf den Stadtteil Wieseck zu. Schon wegen der hohen Geschwindigkeit gibt es kaum ein entkommen.

Wie in der Geschichte beschrieben gilt der Vogelsberg als inaktiv, im Gegensatz zur (Vulkan)Eifel, die in einer der nächsten Episoden Thema sein wird.