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Strange Days have found us

Strange Days have found us

Sneak Previews sind eine Möglichkeit Filme zu sehen, die man sich sonst vielleicht nicht angesehen hätte. Das muss nicht immer ein positives Erlebnis sein, beim Film „Strange Days“ von Kathryn Bigelow jedoch war ich mehr als angenehm überrascht.

Das Genre liegt irgendwo zwischen Film noir und Sience-Fiction, wobei der Film nur wenige Jahre in die Zukunft gelegt wurde. Veröffentlicht 1995 spielt der Film zur Jahrtausendwende. Das Set-Design hatte also die Aufgabe nur wenige Jahre vorweg zu greifen, sieht man mal von der SQUID-Technik ab. SQUID, das ist ein System, mit dem man quasi Sinneseindrücke auf eine Minidisc aufnehmen kann, und diese lassen sich später wieder abspielen.

Protagonist ist der Ex-Cop Lenny Nero (Ralph Fiennes), der mit SQUID-Clips dealt und seiner verflossenen Liebe Faith (Juliette Lewis) hinterher trauert und rennt. Vor dem Hintergrund drohender Rassenunruhen entwickelt sich eine rasante Geschichte, die ihren Climax bei der Silvesterfeier 1999/2000 hat.

SPOILERHINWEIS: Im Bericht gehe ich auf verschieden Szenen des Films ein, wer ihn also noch gerne sehen will … kommt später zum lesen wieder.

Die Geschichte, aus der Feder von Bigelows Ex James Cameron, fängt rasant an: Mit einem „Are you ready“ ist man direkt Mitten im Geschehen. Und das trifft bei diesem Film zu, wie bei kaum einem anderen: Die Kameraführung der Eingangsszene erscheint miserabel, der Ton etwas seltsam, es ist alles sehr hektisch und irgendwann fällt auf: Es gibt keinen Schnitt. Man ist Zeuge eines Raubüberfalls und irgendwann wird einem bewusst, dass man das Geschehen aus der Egoperspektive sieht und hört! Diesen Film muss man mit großem Bild und einer guten Surroundanlage sehen, sonst verlieren die Bilder und Toneffekte an Wirkung! Zurück zur Eingangsszene, in der sich die Person, in dessen Kopf man sich zu befinden scheint, auf der Flucht vor der Polizei auf ein Dach gerettet hat. Während sein Kumpane den meterweiten Sprung auf das Nachbardach geschafft hat, scheitert „unsere“ Person, bleibt kurz am Rand des Daches hängen und stürzt dann ab.

Lenny (sehr überzeugend von Ralph Fiennes gespielt, der kurz vorher als Lagerkommandant Amon Göth in „Schindlers Liste“ zu sehen war und die letzten Jahre die Rolle dessen, der nicht genannt werden darf … also Harry Potters Gegner Lord Voldemort wegen der Maske eher nicht zu sehen war) reißt sich ein Haarnetz, an das Elektroden angeschlossen sind, vom Kopf und ist etwas ungehalten, da sein Clip-Lieferant ihm einen „Snuff Clip“ angeboten hat, den er nur weiter verkaufen könne, wenn das Ende (der Tod) herausgeschnitten werden würde. Dann folgt, irgendwie etwas zusammenhanglos, die Vorstellung der weiteren Protagonisten (Lennys Ex-Freundin Faith (Juliette Lewis), die er an den schmierigen Plattenproduzenten Philo Gant (Michael Wincott) verloren hat, Lennys gute Seele Mace (Angela Bassett), Lennys Ex-Kollege Max (Tom Sizemore), womit man die wichtigsten Charaktere kennt.

Nebenbei wird erklärt, das SQUID vom oder für das FBI entwickelt wurde: man kann mehrere Minuten der Sinneseindrücke eines Menschen aufzeichnen und sie später wieder abspielen. Als Medium dienen Minidisc (zumindest sehen sie so aus), entsprechende Rekorder die drahtlos mit den Rezeptoren (das eben erwähnte Haarnetz, das zum Aufnehmen und Abspielen benötigt wird) verbunden sind. Schnell wird dem Zuschauer auch klar: Lenny dealt mit einem Schwarzmarktartikel und verkauft den Leuten Träume, Pornos, Realtitätsflucht … je nach Perspektive. Einem männlichen Kunden gibt er einen Clip einer duschenden Frau, einem Bekannten, der seine Beine verloren hat, lässt er einen Clip mit einem barfüßigen Strandlauf zukommen, man bekommt mit wie er sich „Schauspieler“ für die Clips besorgt. Ebenfalls nebenbei bekommt man aber auch mit, dass Lenny selber an den Clips hängt, die er mit seiner Ex Faith gedreht hat. Lenny (der „Magicman“) hängt selber von der Droge ab die er vertickt.

Scheinbar zusammenhanglos spinnt sich im Hintergrund eine Story zusammen: eine Frau wird von zwei Cops verfolgt, man sieht, das sie „vernetzt“ war (unter der Perücke, die ihr einer der Cops heruntergerissen hat, ist eines der SQUID-Haarnetze zu sehen). Man ist etwas erstaunt, dass der Cop dann per Funk die Verfolgung eines flüchtigen Schwarzen meldet, war die Dame doch eindeutig weiß. Sie (später erfahren wir das sie Iris heißt) versucht Lenny anzurufen, der verpasst ihren Anruf aber um Haaresbreite. Nahezu allgegenwärtig in den Szenenbildern: Gewalt. Passanten verprügeln einen als Santa Clause verkleideten Mann, Polizei ist massiv präsent, es ist offensichtlich: Die Stimmung ist angeheizt.

„Jeriko One“ (einer der wichtigsten Nebendarsteller) ist ein schwarzer Rap-Musiker, der politisch engagiert ist und irgendwie an Malcom X, Martin Luther King erinnert und ebenfalls auf seine Art und Weise Aggression ausstrahlt. Er klagt an, dass das LAPD (Los Angeles Police Department) ein Polizeistaat sei und schon kurze Zeit später ist er tot. Die Verbindung zu Jeriko ist dessen Produzent Philo Gant, womit sich zumindest für den Zuschauer einen losen Zusammenhang ergibt.

Lenny wird ein weiterer Snuff Clip zugespielt, in dem Iris umgebracht wird und gemeinsam mit Mace und Max versucht er das Verbrechen aufzuklären. Nero verzehrt sich nach Faith (was ihn immer wieder in Probleme bringt, aus denen ihm Mace heraushilft, die wiederum Einiges für Lenny übrig hat, nur er merkt das nicht). Um es etwas abzukürzen: Lenny findet den Clip, den Iris gedreht hat, und im Clip ist zu sehen, dass zwei Police Officer Jeriko One während einer Kontrolle erschossen haben (eine Routinekontrolle war es nicht wirklich, Jeriko erklärt beiden das sie diesmal den falschen Schwarzen vor sich hätten und das er sie verklagen würde, woraufhin der eine seine Waffe zieht, Jeriko und seine Begleitung erschießt (bis auf Iris, die flüchten kann, nur um dann später umgebracht zu werden).

Während Lenny im Finale schwere Schläge einstecken muss, gelingt es Mace den Clip mit dem Mord an Jeriko One Commissioner Strickland zukommen zu lassen (Lennys Ex-Chef, den Lenny für vertrauenswürdig und nicht bestechlich hält). Nach einer kurzen Verfolgungsjagd durch die feiernde Masse (31.12., kurz vor Mitternacht) schafft sie es die Mörder von Jeriko One außer Gefecht zu setzen um danach von anderen Polizisten angegriffen zu werden.

Kurz schaut die Menge zu wie Mace von Polizisten verprügelt wird. Die ohnehin angeheizte Stimmung wird durch diesen Ausbruch von polizeilicher Gewalt gegenüber einer unbewaffneten schwarzen Frau zum überkochen gebracht, die Menge fängt an gegen die Polizisten zu kämpfen. Wäre dies mein Film gewesen, hätte ich ihn genau hier enden lassen, Bigelow lässt Strickland auftreten, die Menge beruhigt sich wieder, die beiden Cops sollen verhaftet werden (werden aber erschossen weil sie versuchen Lenny und Mace zu töten), Mitternacht, neues Jahr(tausend), Kuss zwischen Lenny und Mace und Ende.

Ich fand und finde vieles an diesem Film beeindruckend: das Industrial Design des Clubs in dem Faith auftritt (Juliette Lewis singt im Film übrigens zwei Songs von K.D.Lang, allerdings nicht “live”, trotzdem sind “Hardly Wait” und “Rid of Me” hörenswert). Überhaupt: Skunk Anansie, Peter Gabriel und Ray Manzarek (Doors-Mitglied) sind nur drei erwähnenswerte Künstler.

Die Idee Gedanken aufzuzeichnen wurde schon 1983 im Film „Project Brainstorm“ aufgegriffen und hier konsequent umgesetzt, die Ego-Perspektive versetzt den Zuschauer so in das Geschehen wie ich es davor und danach nicht mehr erlebt habe.

1995 wird vielen noch der Name Rodney King ein Begriff gewesen sein, der 1991 in Folge einer Verkehrskontrolle (und dem anschließenden Fluchtversuch) von Polizisten des LAPD schwer misshandelt wurde. Nach einem Prozess 1992 wurden die vier Polizisten zunächst freigesprochen, was Unruhen mit 53 Toten und knapp 2000 Verletzten in L.A. zur Folge hatte (über 1 Milliarde Sachschaden, Einsatz der Streitkräfte zur Beendigung der Unruhen). Mit der Stimmung, wie sie vor den Unruhen waren, arbeitet der Film. Davor wird eine Cyberpunk-Geschichte gestrickt die fesselnd ist und den Vergleich mit anderen Filmen, z.B. Blade Runner, nicht scheuen.

Weshalb der Film es nicht zum Klassiker geschafft hat, ist mir jedoch ein Rätsel. Das, meiner Meinung nach unnötige, Happy End kann alleine nicht der Grund gewesen sein: Die schauspielerischen Leistungen stimmen, die Kameraarbeit ist einfach der Hammer, die Musik unterstützt die Grundstimmung, im Grunde passt alles. Über das sichtbare Sicherheitsseil beim Sturz und andere kleine Fehler kann man hinweg sehen, für mich ist und bleibt es ein unterbewerteter Film.

Freunden und Bekannten leihe ich die DVD gerne aus!

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